Ich hatte immer noch ein bißchen Hoffnung, dass die Menschen maßnahmenkritischer werden. Einerseits werden sie es auch – aber in einer destruktiven Art und Weise. Sie kritisieren die Einschränkung der eigenen Komfortzone. Sobald ihnen diese freigegeben wird, sind sie mit allem anderen einverstanden.
So sind EinzelhändlerInnen bereit, nur noch getestete und/oder geimpfte KundInnen, mit Maske und Abstand, einzulassen – die anderen sollen sehen, wo sie bleiben. So sind Leute bereit, mehrfach getestet zu werden, um mit Maske und Abstand in so eine Art Urlaub zu fliegen – wer das nicht kann oder will, soll sehen, wo er bleibt. Da lassen Leute sich impfen, um die Familie besuchen zu können, ob ich als Ungeimpfte (ohne Test, Maske und Abstand) da wohl noch mal zum Kaffee kommen darf? Menschen, die (zu Recht) ihr eigenes Wohnmobil benutzen wollen, sind voller Hass auf die DemonstrationsteilnehmerInnen, diejenigen, die eben nicht nur den eigenen Tellerrand wahrnehmen. Menschen in Gegenden, die seit Jahrzehnten und Jahrzehnten vom Tourismus leben, beschimpfen TagesausflüglerInnen, ZweitwohnsitzbesucherInnen, die sollten wegbleiben, sie bräuchten den Platz selber. Leute, die sich seit Jahrzehnten für Geflüchtete einsetzen, nehmen ohne mit der Nase zu wackeln in Kauf, dass es letztes und dieses Jahr zig Zehntausende mehr Hungeropfer weltweit durch die Maßnahmen gibt. Die, die sich impfen lassen, interessieren die kritischen Stimmen nicht, die davor warnen, dass durch das Impfen in eine Infektwelle hinein Mutationen und Immunflucht gefördert werden.
Es ist wieder April. Vor einem Jahr kamen die Masken auf. Und ich war entsetzt. Es ist wieder April. Und es wird geplant, dass Geimpfte bald (mit Abstand und Maske) Zutritt zu Geschäften haben sollen und vielleicht sogar ungetestet reisen dürfen. Mit Maske und Abstand natürlich. Überall liegen und fliegen weggeworfene Masken herum, vom Vorgarten bis zu den Meeren. Es gibt Hasskampagnen gegen klimabewusste Jugendliche. Es werden E-Autos angepriesen, ohne die Produktion der Batterien zu bedenken. Jegliche Grenzen zwischen den politischen Farben verschwimmen, Grüne propagieren Umweltsünden und fördern mit falsch verstandener Toleranz Misogynie, die SPD hat lange das von Degenhardt kritisierte Stadium „bist du noch Sozialist oder schon Sozialdemokrat“ hinter sich gelassen. Die Linke entwickelt wenigstens einen Nebentrieb namens „freie Linke“. Die Afd tut so als interessiere sich sich für die Grundrechte. Die FDP sagt ab und zu was und verlangt danach, dass die Parlamente mal wieder mit einbezogen werden. CDU und CSU bleiben sich treu, aber das ist ja nun auch nichts Gutes.
Nebenbei bleiben Vergewaltiger aus den Kirchen wie üblich ungestraft, Lobbyisten verdienen sich krumm und dumm, die Reichsten der Welt werden exponentiell (das mögt ihr doch so, das Wort) reicher. Kinos, Restaurants, die reizenden individuellen Geschäfte, nach denen doch immer alle so verlangt haben, werden durch Streaming, Lieferservice und Onlineshopping ersetzt, das scheint den Leuten gar nichts auszumachen. Es scheint immer noch so zu sein wie vor einem Jahr, dass die meisten Menschen sich sehr wohl damit fühlen, durch eine schiere Geste (Maske und andere Maßnahmen) all ihre Pflicht erfüllt zu haben – nun kann niemand mehr etwas von ihnen verlangen, schließlich tun sie ja alles, was möglich ist.
Ostersonntag, 04. April 2021