Die Caprifischer.
Sommer 1977. Das Sauerland ist grün. Meine Knie sind ebenso braun wie der Rest und dazu frisch verkrustet, weil ich mit dem Roller gefallen bin. Im Wald duftet es nach warmen Fichtennadeln. Im Bach darf ich nicht baden, weil die Fabriken im Ort oberhalb etwas einleiten, das die Nachbarskinder mit Quaddeln aufblühen ließ. Durchwaten, ganz schnell, geht aber, an den flachen Stellen, um ins Heu auf der großen Wiese zu gelangen. Da liege ich und halte die Schnur meines Drachens in der Hand, es ist ein Bussard, steht wunderbar still im Wind, und ich liege dort und bin selig. Wiese und Heu unter mir, die Greifvogel Silhouette vor dem blauen, blauen Himmel. Abends wate ich wieder zurück. Über den Bach. Bevor der kleine steile Weg zu den Häusern beginnt, muss ich den Grillplatz überqueren. Hier stehen eine riesige Eiche und eine genau so große Buche. Am Rand, zum Wasser hin, wachsen Erlen. In die Erlen kann ich schon lange klettern, in die großen Bäume habe ich mich erst diesen Sommer hinaufzuhangeln gelernt. Der Grillplatz gehört den Caprifischern. Sie machen dort Kartoffelfeuer und grillen Würstchen und Brot, wenn sie zuhause sind. Für mich heißen sie die Caprifischer. Eigentlich sind sie 3 Brüder, ihnen gehören die drei Häuser am Ende der Straße, im letzten wohnen meine Eltern und ich zur Miete. Gebaut hat die Häuser ihr Vater, der „Oppa“. Er spricht Platt, ist Maurer, gottesfürchtig, unglaublich fleißig, hält Kaninchen zum Schlachten in kleinen Käfigen an der Schuppenwand, und obwohl er durchaus bereit ist, seine Enkel zu ohrfeigen, wenn sie wieder mal eine Scheibe eingeschossen haben (manchmal war auch ich es, aber die Tochter des, wenn auch zugereisten, Herrn Lehrers wurde damals keineswegs geohrfeigt) und obwohl ich ein ängstliches Kind bin, fürchte ich mich vor ihm nie und folge ihm tagelang wie ein kleiner, dünner, braungebrannter Schatten, in alle Winkel seines Reiches. In den seltsamen Raum unter den Garagen, in den Hühnerstall mit den braunen Hennen, die immer kahlgerupfte Hinterteile haben, zu den Kaninchen, in den Schuppen, der so sehr nach Mäusen riecht wie seither nie wieder etwas. Wir sprechen nicht miteinander, ich beobachte ihn einfach und er lässt mich sein. Die Caprifischer sind seine Söhne. Der Jupp, der älteste, im mittleren Haus, in dem auch der „Oppa“ und die „Omma“, das perfekte, kochende, backende, gottesfürchtige, fleißige, Pendant, seine Frau und die beiden Kinder wohnen, und in dem ich genauso ein und aus gehen darf wie die anderen Kinder bei uns. Der Willi, unser Vermieter, noch heute, über 40 Jahre später, ein guter Freund meines Vaters, im letzten Haus der Straße, so an den Hang gebaut, dass es dauernd interessante Risse im Mauerwerk zeigt, so günstig gebaut, dass man beim neu Tapezieren immer die halbe Wand mit den alten Tapeten abzupft, mit einer Tochter, die mich böse sekkiert und beißt und kratzt und einem Söhnchen, das dauernd mit dem Krankenwagen abgeholt wird, weil es irgendeinen Reiniger geschluckt hat. Der Bruno, das Nesthäkchen, dem das neueste Haus gehört, er hat auch zwei Mietparteien im Haus, die genau solche Außenseiter sind wie wir. Er wird später zum Skandal, und seine Eltern sprechen nicht mehr mit ihm, weil er eine Geschiedene geheiratet hat. Deren Tochter gibt mir auf einem Hochsitz im Wald die erste und fast einzige Zigarette meines Lebens. Ich weiß noch genau, wie alle drei Häuser geklungen und gerochen haben, wie die Stufen sich unter den Füßen anfühlten, wie es war, zum Bach hinunter oder über die Straße in den Wald zu laufen. Und ich weiß noch, wie es war, an diesen warmen Sommertagen den ungepflasterten Garagenhang hinunterzukommen, wenn die drei Brüder frei hatten und die Garagentüren aufstanden (vor unserer Garage stand die Tischtennisplatte) und die drei, der Jupp, der Willi, der Bruno, steckten unter ihren Bullis und schraubten und machten und planten den nächsten Trip zum Nürburgring, während aus einem Radio laut und unvergesslich das Lied von den Caprifischern dröhnte. Abends zogen sie auf den Grillplatz um. Wir Kinder bekamen gegrilltes Toastbrot, dünn mit Ketchup bestrichen, die Sommerköstlichkeit.